Nach dem Wachwerden ist mein Kopf frei von Gedanken, mein Herz leicht. Ich atme auf. Puh! Dann nach ein paar Sekunden die Ernüchterung. Die „Zwangsgedanken“ melden sich auch heute mit voller Wucht zurück. Als wären alle Nervenzellen, die für „Sehn-Sucht“ zuständig sind, am Stromnetzwerk „Conny“ angeschlossen. Wieso kann ich nicht endlich loslassen, wo er doch längst gegangen ist?!
Hand aufs Herz: Wann hast Du zum letzten Mal unter Liebeskummer gelitten? Ja genau, die Rede ist von diesem quälenden Schmerz in der Herzgegend, der sich von dort aus wie glühender Lava durch den gesamten Körper zieht. Liebeskummer ist ein brutal schmerzhaftes Ganzkörperphänomen. Er reißt ja nicht nur einen Krater in unser Herz so riesig wie ein schwarzes Loch im Kosmos, sondern hinterlässt zudem einen Horrorstreifen im Gehirn.
„Der Schmerz, den die Liebestrennung hervorruft, gehört zu dem Entsetzlichsten, das wir imstande sind zu ertragen (…) Die Trennung hat den Geschmack des Todes – im Leben“ (Igor Alexander Caruso).
Vor Liebeskummer ist kein Mensch gefeit. Irgendwann trifft er jeden von uns. Ob wir bis über beide Ohren verliebt sind und dieses Gefühl keine Erwiderung findet oder eine langjährige Beziehung zerbricht und wir mutterseelenallein in einem Trümmerhaufen zurückbleiben…Wir fühlen uns verloren und verraten, von allen guten Geistern verlassen, aufs Abschiebegleis geschoben und bis in unseren tiefsten Zellkern getroffen. Apokalyptische Finsternis! Nichtsdestotrotz ersehnen wir die Wiederherstellung des Verlorenen und klammern uns an diese Hoffnung wie ein eifersüchtiger Oktopus an seine Partnerin kurz vor der Paarung. In unserer Sehnsuchtshölle warten wir rund um die Uhr auf ein Zeichen, das nicht kommt…und erleben die unerträgliche Einsamkeit des Seins. „Als das Telefon nicht klingelte, wusste ich, dass du es warst“, bringt die Autorin Dorothy Parker diesen Seelenzerreißzustand treffend auf den Punkt.
Liebesschmerz kann als vorübergehender Knockout daherkommen, von dem wir uns nach kurzfristiger Seelenhygiene wieder berappeln. Tragisch ist jedoch die massive Seelenqual-Variante, bei der der Schmerz nicht nachlässt und die nach Liebeserwiderung lechzende Seele in ihrer Verletzung schockgefriert. Ebenso intensiv wie die Liebe als Urknall daherkommt, klebt sie bei Verlust an uns wie eine Klette.
Wie soll das auch gehen…loslassen, wo wir doch von ganzem Herzen festhalten wollen? Das Szenario ist radikal ambivalent: Wir haben Hunger auf den Ex-Partner…und werden zugleich auf 0-Diät gesetzt. Wenn es um Gefühle geht, noch dazu um die des anderen, sind wir machtlos. Wir können dem Gegangenen die Liebe nicht per Zwangsjacke verpassen.
Warum gibt es keine Reset-Taste für Gefühle, keine Liebesschmerz-tablette, keine Loslass-Infusion? Weil es schlicht und ergreifend keinen Kummerkiller für gebrochene Herzen gibt. Wenn wir uns auf einen anderen Menschen einlassen und uns an ihn binden, gehen wir das Risiko ein, wieder verlassen zu werden. Das ist der Einsatz, den wir für das große Gefühl riskieren: eine Leidenschaft, die auch Leiden schafft.
Ebenso wenig, wie es eine Verbeamtung für die Liebe gibt, existiert ein Gegengift gegen den Verlustschmerz. Im Übrigen haben die Trauer und die Phasen des Loslassens, des Ent-liebens, eine wesentliche Funktion als Vorbereitung auf einen neuen Lebensabschnitt. Wie wäre es also damit, auch schmerzhafte Gefühle zuzulassen, hemmungslos zu leiden und sich selbst „mildernde Umstände“ zuzugestehen?
Eine selbsttherapeutische Hilfe, um das Loslassen etwas zu erleichtern, soll das Anfertigen einer Liste mit den schlechten Eigenschaften des Ex-Partners sein. Eine solche Prüfliste kann Beistand bei der Verlustverarbeitung leisten – solang Du nicht so ungeschickt bist wie ich und eine Positivliste danebenlegst. Zu blöd, dass derartige Manöver an unseren Verstand appellieren, der im Neokortex unseres Gehirns beheimatet ist. Unsere Emotionen werden hingegen im limbischen System verarbeitet, das mit dem Verstand leider nicht verlässlich zu erreichen ist.
Eine tragende Rolle, die das Loslassen erschwert, spielen unverarbeitete frühkindliche Erfahrungen. Ur-Wunde Verlustangst: An Liebeskummer Verkümmernde sind erfahrungsgemäß Menschen, die als Kinder mangelnde Zuwendung, eine schmerzhafte Trennung oder gar einen frühen Verlust erlebt haben. Der Loslass-Prozess wird in solchen Fällen durch die eingekapselte frühere Verletzung blockiert.
In der therapeutischen Praxis hat sich als Loslass-Hilfe das Erstellen eines Aktivitäten-Plans bewährt. Ein trivialer, aber umso tauglicher Trick besteht darin, neue Herausforderungen anzunehmen. Das lenkt uns nicht nur ab, sondern ist ein wahrer Ego-Booster, der in uns endlich wieder positive Gefühle entstehen lässt. Wir entdecken unser Herz für etwas Neues, wodurch wir auch uns neu entdecken.
Manch einer von uns setzt seine tiefe Traurigkeit, Wut und Verzweiflung in Bewegung um und fängt an zu laufen, trainiert wochenlang für den Marathon, bis er wieder bei sich selbst ankommt. Tatsächlich kann Bewegung den Loslass-Prozess ankurbeln. Die körperliche Aktivität bringt erstarrte Gefühle wieder zum Fließen. Let go Flow! Auch ich bin damals dank Yoga wieder in den Fluss gekommen. Die Flucht in Arbeit kann ebenfalls eine Erste-Hilfe-Maßnahme sein. Hier finden wir eine zuverlässige und konstante Verbündete, die zudem für Einnahmen anstelle von Ausgaben führt.
Die wichtigsten Seelsorger in meinem unterirdischen Jammertal waren meine Familie und meine Freunde, die mich in meinen exaltierten Gemütsschwankungen nicht nur so angenommen haben, wie ich bin, sondern, die mich auch unermüdlich in ihre Arme genommen haben. Ein Verlustopfer ist bedürftig. Bedingungslose Annahme, Streicheleinheiten, offene Arme und Ohren von vertrauten Menschen sind der verlässlichste Trost für die verwüstete Seelenlandschaft.
Kommt es hart auf hart mit dem Broken heart, so zeigen sich bei der liebeskranken Person Symptome einer handfesten Depression. Hier sollte sich jede(r) Leidende ein Herz nehmen und professionelle Hilfe aufsuchen. Mittlerweile gibt es einen Fundus an Behandlungsmöglichkeiten, die darauf spezialisiert sind, den Loslass-Prozess zu erleichtern. Ob mit oder ohne Fremdhilfe…irgendwann kommt der Tag, an dem die Geister der verlorenen Liebe vertrieben sind und wir nicht mehr 24 Stunden täglich an den anderen denken. Wir – unsere Seele, unser Körper, unser Geist – haben „losgelassen“. Der langfristig erfolgreichste Therapeut ist und bleibt die Zeit.
Aber aufgepasst: Liebeskummer muss nicht zwangsläufig nur Unglück bedeuten, sondern kann durchaus auch eine Gelegenheit zu tiefer Selbsterfahrung und persönlicher Metamorphose sein. Quasi eine Psychoanalyse ohne Analytiker, in der wir die Chance zur Inventur haben.
Das Gefühl des Auf-uns-selbst-zurück-geworfen-Sein lädt uns dazu ein, alte Strukturen aufzubrechen, eingespielte Gewohnheiten abzulegen und ungewisses Neuland zu betreten. Im Idealfall entwickeln wir den Mut, endlich das zu verwirklichen, was wir schon immer tun wollten. Wir brechen auf zu neuen Ufern. Dort angekommen, beginnen wir mit der größten Liebesgeschichte unseres Lebens: die mit uns selbst! So kann eine unerfüllte Liebe sogar zu Selbsterfüllung führen.
Die „große Liebe“ ist nicht in einem anderen Menschen verortet. Sie ist vor allem eine Fähigkeit, die wir als Menschen in uns tragen, indem wir sie (auch uns selbst!) geben und empfangen. Irgendwie, irgendwo, irgendwann öffnet sich unser Herz wieder von ganz allein für eine neue Liebe zu einem anderen Menschen.