Unser Schatten ist die Person, die wir lieber nicht wären
Wie Sonne und Mond, Himmel und Erde, Tag und Nacht, trägt auch der Mensch zwei Polaritäten in sich: Licht und Schatten.
Während wir unsere lichtvollen Seiten anerkennen und der Außenwelt plakativ demonstrieren, schlummern verdrängte und ungeliebte Charakterzüge und Anteile tief im Dunkeln unseres Daseins – um dort zunächst unbemerkt ihr Eigenleben zu führen.
Der berühmte Psychoanalytiker Carl Gustav Jung entdeckte diese dunkle Seite unserer Persönlichkeit als Erster und gab ihr sogleich einen einprägsamen Namen, der „Schatten“. Der Schatten enthält all jene Anteile von uns, die wir im Laufe unseres Lebens zu verstecken oder zu verleugnen versucht haben…Persönlichkeitsanteile, die wir nicht wahrhaben wollen und ablehnen.
Aber wieso wollen wir diese „dunklen“ Aspekte verbergen? Warum spielen wir mit uns selbst ein Versteckspiel? Weil wir glauben, dass sie für unsere Außenwelt, für die Gesellschaft, aber auch für uns selbst nicht akzeptabel sind. Weil sie nicht mit unserem gewählten und nach außen inszenierten Image harmonieren. Dazu zählen u.a. „negative“ menschliche Emotionen und Impulse wie Wut, Aggression, Neid, Gier, Selbstsucht…die Liste ist endlos.
Jung fand eine ganz einfache Definition: „Unser Schatten ist die Person, die wir lieber nicht wären“. Das können die heimliche Drama-Queen, der Narzisst, die Entfaltungsbremse, der Suchtmensch, der Klammeraffe, der Erbsenzähler, der Prinzipienreiter, das emotionale Sparschwein, der Sorgenpinsel, der Angsthase und vieles mehr in uns sein.
Doch jetzt wird es tricky: Erst dann, wenn wir unsere Schattenseiten anerkennen und in unsere Persönlichkeit integrieren, sind wir vollständig.
Projektion statt Integration: Die Entstehung unseres Schattens
Wir Menschen kommen mit einem gesunden emotionalen System auf die Welt. D.h. wir nehmen uns an, genauso, wie wir sind. Wir lieben und akzeptieren uns in unserer Ganzheit. Nicht im Geringsten kämen wir auf die Idee zu bewerten, welche Teile von uns gut und welche schlecht sind.
Das erledigen dann die anderen für uns… Während wir heranwachsen und gedeihen, geschieht nämlich etwas Einschneidendes. Einige unserer Verhaltensweisen, die wir ganz selbstverständlich der Außenwelt zum Besten geben, werden missbilligt, für andere wiederum ernten wir Lob und Akzeptanz.
Das ist der Moment in unserem Leben, wo sich unsere Lebenswelt in Gut und Böse trennt. Um bloß nicht anzuecken und um unser psychologisches Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu stillen, passen wir unser Verhalten an den gesellschaftlich geltenden Standards an. Oder, wie der Dichter Robert Bly es in dem Buch „A little Book of the Human Shadow“ beschreibt: „Als Kinder befördern wir alle ungewollten Teile unseres Selbst in einen unsichtbaren Sack und ziehen ihn von nun an hinter uns her.“
Der Haken dabei ist: Sind diese Schattenanteile erst einmal in die Tiefe unseres Unbewussten verbannt, beginnt unser Schatten unter der Oberfläche unbemerkt ein Eigenleben zu führen. Kurzum: Er verselbständigt sich.
Das Zynische, das Missachtende, das Zerstörende, das Ängstliche, das Teuflische: All diese Komponenten schlummern in uns und verschaffen sich Geltung, wenn wir sie missachten und nicht in unser Selbst(-bild) integrieren.
Die alten Griechen wussten es besser. Denn sie verehrten alle Teile unserer Psyche. Sie beteten die so genannten „Archetypen“ als autonome Göttinnen und Götter an, denn sie ahnten: Die Gottheit, die wir ignorieren, wird diejenige sein, die sich irgendwann gegen uns wendet und uns zerstört. Jeder Teil, den wir ablehnen, stellt sich gegen uns.
Das bemerken wir zunächst kaum…unser Schatten ist verdammt raffiniert. Er setzt eine Tarnkappe auf. Jetzt wird es spooky: Denn die Anteile, die wir in uns verleugnen, beginnen wir in anderen zu sehen. Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang von „Projektion“. Unser Schatten projiziert immer auf jemanden oder etwas. Na logo: Projektion, also Übertragung, ist ja auch bequemer als Integration. Dazu C. G. Jung: „Wir können dankbar sein für unsere Feinde, ihre Dunkelheit erlaubt es uns, unserer eigenen zu entfliehen.“
Teil 2 folgt: Erleuchtung durch Bewusstwerdung