An einem frühen Januarmorgen begann ein Mann am Ausgang einer U-Bahn-Station in Washington Geige zu spielen. In einem Zeitraum von 45 Minuten bekamen die zahlreichen Rushhour-Passanten sechs Stücke von Johann Sebastian Bach auf virtuose Art und Weise zu hören. Erst nach 3 Minuten seines Spiels bemerkte ein älterer Mann die Musik, ging langsamer, schaute einen Moment hinüber, und lief dann weiter. Kurz darauf bekam der Geiger sein erstes Trinkgeld – eine Ein-Dollarnote.
Der erste Mensch, der dem Geiger unbedingt zuhören wollte, war ein kleiner Junge. Seine Mutter hatte es eilig, sodass er weggezogen wurde. Irgendwann blieb eine Frau bei ihm stehen, die ihn am Vortag gesehen hatte und die ihm sagte, dass sie seine Arbeit bewundere.
Nach ca. 45 Minuten Gratis-Konzert waren 1070 Leute musiktaub an dem Straßengeiger vorbeigeeilt. Er nahm 32,17 Dollar ein. Als er aufhörte zu spielen, gab es keinen Applaus.
Der Name des Geigers ist Joshua Bell, einer der bekanntesten Violinisten der Welt. Und dieses Experiment wurde von der Washington Post für einen Artikel über das menschliche Verhalten aufgezeichnet.
Zwei Tage zuvor hatte Bell in einem ausverkauften Konzertsaal in Boston gespielt. Die billigste Karte kostete 100 Dollar. Die Geige, auf der er spielte, war eine Stradivari mit einem geschätzten Wert von 3,5 Millionen Dollar. Die Stücke, die er spielte, gelten als die schwierigsten, die Bach für Geige geschrieben hat.
Was Bell gefühlt habe, fragte ihn ein Journalist. Seine Antwort: Die Menschen seien außerstande Schönheit außerhalb des gewohnten Umfeldes zu erkennen. Ein ähnlicher Versuch wurde einige Jahre später in Deutschland mit David Garrett wiederholt…mit demselben Ergebnis.
Was zeigt uns das Experiment? Wir Menschen sind unachtsam, wenn wir andere Prioritäten haben, in diesem Fall den Weg zur Arbeit. Gefangen in unserer Alltagsroutine sind wir unfähig wahrzunehmen, welche wunderbaren Dinge um uns herum geschehen. Und: Wir neigen zur Verallgemeinerung, was unseren Blick auf die Welt dramatisch trübt. In diesem Fall: Alle Menschen, die an U-Bahn-Stationen spielen, sind verkrachte Existenzen.
Und so übersehen und überhören wir die Schönheit und Lebendigkeit des Augenblicks. Dieses Experiment sollte uns eine Warnung sein: Wenn wir nicht einmal die Zeit haben, einen der besten Geiger der Welt zu lauschen, wie viele zig andere schöne Dinge im Leben entgehen uns dann noch?