„Frag nach der Beziehung zu seiner Mutter“ ist die Standardmitgift meiner Mutter, seitdem ich mich auf den Weg gemacht habe, das männliche Geschlecht zu ergründen.
Heute bin ich davon überzeugt, dass sie in allen männlichen Erdbewohnern getarnte Könige von Theben, sprich: „Ödipusse“, wähnt.
Schlummern in allen Kerlen potentielle Mutterverehrer und Vaterverächter?
Die Geburtsstunde des Ödipuskomplexes ereignete sich am 15. Oktober 1897, als sich der 41jährige Sigmund Freud in einem Brief an den vertrauten Freund Wilhelm Fließ selbstanalytisch zur kindlichen Verliebtheit in die Mutter bekannte: „Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit.“ Der erstgeborene „Goldsohn“ Sigismund reiste als knapp Vierjähriger gemeinsam mit seiner Mutter in einem Zugabteil, als er sie für einen Augenblick entblößt sah, woraufhin seine „libido gegen matrem“, sein geschlechtliches Verlangen gegenüber der Mutter, erwachte.
Ein Mann muss nicht notgedrungen von seiner Mutter „Pussi“ genannt werden, ein Foto von ihr auf dem Nachtkonsölchen thronen haben, sich von ihr bekochen und sich seine Hemden von ihr bügeln lassen, um wie Paul Winkelmann alias Loriot ein Ödipussi zu sein. Umgekehrt ist er noch lang kein tragischer Ödipus, nur weil er Ihnen gesteht, dass er sich glatt mit Ihnen in einer Tonne durch die Niagarafälle treiben lassen würde – um im gleichen Atemzug zu bemerken, er habe dieses Wagnis bislang nur mit seiner Mutter angehen wollen.
Sehr verehrte Herren der Schöpfung, dass Ihr Euch einen Funken Milch-Bübchen-Charme bewahrt, finden wir Frauen ja ganz erfrischend. Der traumatische Prozess der Abnabelung schmerzt auch uns heute noch in sensiblen Momenten. Als Trostpflaster lassen wir hier und da gerne unsere mütterlichen Instinkte walten und verwöhnen Euch mit fürsorglichen Streicheleinheiten. Dass Ihr aber nie erwachsen werden und Euren Mann stehen wollt, finden wir Frauen total unsexy! Es ist schon kurios. Über Jahrtausende musstet Ihr heldenhaft stark, tapfer und edelmütig sein, um bei uns Frauen zu punkten. Ist der „Mama-Macho“ des zweiten Jahrtausends ein Bumerang der Historie, eine sublimierende Abwehrreaktion auf veränderte gesellschaftliche Standards? Ist womöglich die Frau das eigentliche starke, der Mann das wahre „schwache Geschlecht“?
Mark Twain beschrieb die Bedürfnisse der männlichen Spezies sehr treffend: „Jeder Mann braucht fünf Ehefrauen: einen Filmstar, ein Dienstmädchen, eine Köchin, eine Zuhörerin und eine Krankenschwester“. Liebe Männer, bitte wundert Euch bei einem solchen Rollen-(miss-) Verständnis nicht, wenn die Ersatz-Mama, die wunschgemäß synchron als Geliebte funktionieren soll, eines Tages unpässlich reagiert, indem sie aus Eurem Leben desertiert, sprich: sich emanzipiert!
Zur nicht zu vereinbarenden Rollenverteilung heißt es im Ratgeber „Die gute Ehe“ von Gertrud Oheim aus dem Jahr 1959: „Zwischen den beiden genannten Extremen (Putzteufel und Schlampe) liegt für die Hausfrau das, worauf es ankommt: ihrem Mann ein Heim zu schaffen, in dem er wirklich zu Hause ist, in das er nach des Tages Arbeit gern zurückkehrt.“ Das, was vor über 50 Jahren noch gesellschaftliche Norm war – der Mann „Ernährer“, die Frau „Heimchen am Herd“ -, ist heute (zum Leidwesen einiger Pascha-Veteranen) eher ein Auslauf- und vor allem: ein Weglaufmodell!
In einer Zeit, in der die Geschlechterrollen durcheinander geraten sind und neu verhandelt werden müssen, sollten sich altbackene Stereotype längst selbst überholt haben.
Wie weit haben wir uns seit Inkrafttreten des ersten Gleichberechtigungsgesetztes (BGB) am 1. Juli 1958 nun tatsächlich von der klassischen Rollenverteilung entfernt? Für den Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter ist die Lage eindeutig: Frauen haben „zu ihren ursprünglichen Stärken neue hinzugewonnen und sich vervollkommnet.“ Die Männer hingegen sind „geblieben, was sie waren“ und zeigen sich im Vergleich als „unvollständige, sozusagen halbe Wesen“.
Der Mann in der Misere. Harter Tobak! Alice Schwarzer reloaded? „Seit einigen Jahren sind wir die Herren der Erschöpfung“, beklagt Hellmuth Karasek. „Wir erleben eine Gleichheit der Geschlechter als work in progress, bei der man sich Rückschläge, aber keinen Rückschritt, vorstellen kann und will“. Kritische Stimmen lassen verlauten, dass dem Mann etliche Zacken aus seiner Krone der Schöpfung gebrochen worden sind, seitdem Frauen Männerterrain erobert haben.
„Der neue Mann, die gleichberechtigte Frau und die Geschlechterdemokratie“ bilden für den Psychotherapeuten Mathias Jung „die großen Herausforderungen des Dritten Jahrtausends“. „Es gibt nicht nur das Programm der Frauenemanzipation, sondern auch die Notwendigkeit der Männerbefreiung“, appelliert er wegweisend. Ich haue in die gleiche Kerbe: Nicht neue Männer braucht das Land, sondern „mannzipierte“ Männer.
Es gibt mehr „moderne Frauen“ als „moderne Männer“, so das Ergebnis der Studie „Männer in Bewegung“, die 2008 im Auftrag der Männerarbeit der Evangelischen Kirche (EKD) und der Gemeinschaft der katholischen Männer Deutschlands (GKMD) durchgeführt wurde. 1470 Männer im Alter von 17 bis 85 Jahren und 970 Frauen stellten sich der Befragungen zu ihrer Rollenmobilität.
Die Studie identifiziert vier Männertypen: 1. den „teiltraditionellen Mann“, der sich wie eh und je über den Beruf definiert, Haushalt und Kindererziehung edelmütig der Frau an seiner Seite überlässt; 2. den „modernen Mann“ (und „neuen Vater“) mit der Überzeugung, dass sich Mann und Frau gleichermaßen um Beruf, Haushalt und Familie kümmern sollten. Dazwischen siedeln sich 3. der „balancierende Mann“ und 4. der „suchende Mann“ an. Während sich der balancierende Mann aus traditionellen und modernen Angeboten das herauspickt, was in sein (bequemes) Lebenskonzept passt, kann der suchende Mann mit beiden Rollenvorgaben nicht viel anfangen. Er hat sein männliches Leitbild nämlich noch nicht gefunden. Und nun wird es spannend.
Welcher Männertyp ist wohl am stärksten ausgeprägt? Mit knapp einem Drittel der Befragten (30%) ist es laut Studie (völlig überraschend!) der suchende Mann. Ihm schließt sich der teiltraditionelle Typ an (27%), gefolgt vom balancierenden Mann (24%). Die kleinste Gruppe bilden die modernen Männer (19%). Wie es scheint, bedeutet die Doppelrolle für manch einen Mann noch immer eine Überforderung. Der Analyse zufolge hat sich die Zahl der Frauen mit bevorzugtem traditionellem Modell in den vergangenen elf Jahren halbiert, bei den Männern fiel der Rückgang deutlich bescheidener aus. Was sich bei den Herren reformiert hat, ist zwar die Akzeptanz anderer Männlichkeitsmodelle, nicht jedoch ihre reale Umsetzung. Der Soziologe Ulrich Beck spricht zynisch von einer „verbalen Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“.
Die Bereitschaft von Männern und Frauen, sich auf ein flexibles Rollenmodell einzulassen, ist offensichtlich extrem ungleich verteilt. Der Soziologe Klaus Hurrelmann spricht von einer „40/80-Katastrophe“. Für nur 40% der jungen Männer ist eine Partnerschaft vertretbar, in der die Aufgabenteilung gleichberechtigt ist!
Diese Geschlechterkollision hat auf das Gelingen von Partnerschaft bedeutsame Auswirkungen. Wenn 80% der Frauen auf nur 40% Männer treffen, die ihre Liebes- und Lebensperspektive teilen, was tun dann die 40% ohne modernen Mann? Ist für sie der Traum von einer gemeinsamen Paarperformance ausgeträumt? Einige Damen werden ein Solo-Programm hexen müssen. Andere mimen aus Liebe zum Mann das tragische Traditionsprogramm. Die abschließende Prognose der Studie „Männer in Bewegung“ lautet folgendermaßen: Der starke Überhang an modernen Frauen werde dazu führen, dass sich entweder der Druck auf die Männer erhöhe oder sich die Weiterentwicklung der Frauen verlangsame. Ich tippe (und hoffe) auf Erstes.
Der Mann ist auf der Suche. Die Frau hat ihre neue Rolle theoretisch schon gefunden, die praktische Umsetzung lässt allerdings vielfach noch zu wünschen übrig.
Ob Affenzahn oder Schneckentempo – der bewegte Mann auf dem Erkundungsweg zu seiner Rolle in der gleichberechtigten Partnerschaft ist gefordert. Männer haben nur eine ungefähre Ahnung, was Frauen vom anderen Geschlecht wirklich wollen: einen erfolgreichen Mann, der die Hosen anhat, aber keinen Macho; einen Frauenversteher, aber keinen Softie, einen Beschützer, aber keinen hohlen Muskelprotz, einen erfolgreichen Mann, aber keinen Workaholic – kurz: ein Mann, der sich zwischen diesen Polen ständig neu justieren muss. Im Prinzip ist das Mannsein von heute gar nicht so mühsam, wie man(n) denkt. Alte Rollenbilder mischen sich lediglich mit neuen – wie bei uns Frauen. Die Antwort des Mannes auf die Infragestellung seiner Identität im Zuge von Feminismus, Gleichstellungskampf und kulturellen Erwartungen könnte eine Art flexible response sein, nämlich: eine offene, aufgeschlossene Identität herauszubilden.
Gegenwärtig gibt es verschiedene Offerten, ein Mann zu sein. Dass der weichgespülte Softie keine dauerhafte Lösung ist, hat sich längst herausgestellt. Umgekehrt wirkt die eingleisig-klassische Macho-Attitüde mindestens genauso gestrig. Männer verzichten nicht nur auf abwechslungsreiche Rollen jenseits der Ernährerfunktion, sondern auch auf kostbare Zeit – für sich und mit Kind und Kegel. Wie bei Adam und Evas Apfel der Erkenntnis, der (wohlgemerkt: „dank“ Adams verhängnisvollem Schweigen) beide dazu zwang, sich gegenseitig in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen, so wäre es heute wünschenswert, dass sich Mann und Frau in ihrer Vielseitigkeit erkennen und ergänzen. Wenn Frauen heutzutage tun können, was traditionell als „typisch männlich“ galt, so hat dieses Arrangement auch umgekehrt Gültigkeit. Eine Neu-Definition von Weiblichkeit und Männlichkeit kann durchaus auch für den Mann eine Bereicherung sein. Ein aserbaidschanisches Sprichwort lautet: „Ein richtiger Mann ist nicht nur härter als Granit, sondern auch zarter als eine Rose.“
Es wird Zeit für neo-maskuline Zeiten, in denen der ganzheitliche Mann seine „anima“, seine „weibliche Seele“ (C. G. Jung), ausleben darf. Früher hätte jedem Mann der soziale Platzverweis gedroht, wenn er, wie einst Fußballtrainer Ottmar Hitzfeld, in der Öffentlichkeit geweint hätte. Obschon die „Mannzipation“ nur stockend voranschreitet, werden doch unverkennbar Tugenden sichtbar, die lange Zeit als „unmännlich“ verhöhnt wurden: Ein taffer Mann darf heute zu seinen Gefühlen stehen. Ja, es wird sogar von ihm gefordert, womit wiederum der ein oder andere noch überfordert zu sein scheint. Nebenbei dürfen Männer sogar ungestraft den kleinen Macho in sich wieder an die Oberfläche lassen – in aufgeklärter Weise, versteht sich. So wie wir Frauen unsere weiblichen Trümpfe legitim ausreizen, sollten Männer es auch mit ihren spezifisch männlichen Pluspunkten tun.
„Frauen wollen erwachsene Männer“, appelliert der Psychologe Roland Kopp-Wichmann an seine (noch) rückständigen Geschlechtsgenossen. Frauen wünschen sich für eine solidarische Partnerschaft Männer, die einen Zugang zu sich selbst haben und emotional greifbar sind. „Authentische Männer“, bei denen „Denken, Fühlen und Handeln eine Einheit“ bilden (Hüther, 2009). Auf dem beruflichen Spielfeld ist der Mann Weltmeister in der Offensive: betreibt als Goalgetter und Ballkeeper regelmäßige Kontaktpflege, macht den Hattrick, spielt auf gleicher Höhe, kickt seinen Teamkollegen geschickte (Doppel-) Pässe zu, geht freiwillig in die Verlängerung. Privat ist er Weltmeister in der Defensive: macht die Schwalbe, zieht die Notbremse, mauert, foult, riskiert Eigentor, Platzverweis und rote Karte – und bleibt so ein Bank drückender Auswechselspieler. Warum ist einem Großteil der Männer noch immer suspekt, dass auch die triumphierende Geschlechterbeziehung eines regelmäßigen Trainings bedarf, um ihren Klassenerhalt in der Champions League zu sichern?
Zu uns Frauen. Fairerweise sollten auch wir uns einer kritischen Selbstanalyse unterziehen und fragen, ob wir uns in unseren Erwartungen wirklich konsequent und damit glaubwürdig verhalten? Auf der einen Seite fordern wir den gleichberechtigten Partner auf Augenhöhe, der kocht, wäscht, bügelt, Windeln wechselt und darüber hinaus mit hingebungsvollem Geschick die (Finger-)Fertigkeit des Vorspiels beherrscht. Auf der anderen Seite folgen wir einem primitiven Beuteschema, indem wir uns von Status überlegenen, beruflich erfolgreichen Leitwölfen – sprich: „Versorgertypen“ – ganz gewöhnlich beeindrucken lassen. Das ist double-bind in krimineller Form! Ein solch ambivalentes Verhalten fördert die männliche Verwirrung zu Recht. Als Frauen müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass sich Männer logischerweise nur dann mit ihren neuen Rollen anfreunden können, wenn sie keine Angst haben müssen, bei diesem Deal den schwarzen Peter zu ziehen. Bei zahlreichen Männern sitzt die Verunsicherung so tief, dass sie heute nicht mehr wissen, ob sie einer Frau die Tür aufhalten, ihr in den Mantel helfen oder einen Kaffee spendieren dürfen.
Mir ist es in der Tat schon widerfahren, dass ein Mann mich unbeholfen in meinen Mantel hat robben und die Eingangstür vor der Nase hat zuknallen lassen, nur um mir zu zeigen, dass er den Emanzipationsgedanken verstanden hat. Kavaliersdelikte, die meinen Verstand übersteigen.
Fest steht: Der Mann fühlt sich bedroht, weil er andauernd in Frage gestellt wird. Insofern sollten wir uns zumindest mit stigmatisierenden Vokabeln wie „Weichei“, „Beckenrandschwimmer“, „Auswechselspieler“, „Sitzpinkler“ oder „Warmduscher“ bescheiden zurückhalten (jedenfalls wenn einer von den genannten in der Nähe ist). Andersherum gefragt: Wollen Sie einen Kaltduscher? Ich bin äußerst skeptisch. Zusammen duschen hätte sich nämlich damit für mich erledigt!
Wir bewegen uns irgendwo zwischen Tradition und Zukunft. Alte und neue Geschlechterrollen mischen sich zu einem Angebots-Allerlei, aus dem sich Männer und Frauen Seite an Seite ihren Lebens- und Liebesentwurf zurechtschneidern können – im Idealfall gleichberechtigt, ohne dabei gleich zu sein.