Die eine oder andere Begegnung mag mit der Zeit verblassen. Der erste Kuss jedoch ist eine Liebesbekundung, die wir nie wieder vergessen. In meinem Fall klang Eric Claptons „Layla, you got me on my knees“ aus den Lautsprecherboxen, während Richard kniend auf mich zurobbte…Er machte ernst!
Bereits die Bibel ermutigt bereits im „Hohelied“ Salomos zum leidenschaftlichen Küssen („Er küsse mich mit Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist köstlicher als Wein.“). William Shakespeare nannte das Intimereignis „See der Liebe“, der römische Dichter Ovid beschrieb in seiner „Ars amatoria“ („Liebeskunst“) die korrekte Vorgehensweise beim Küssen, ebenso machten sich Künstler wie Auguste Rodin oder Gustav Klimt um das Thema verdient. Sogar in der Tierwelt gibt es en masse Beispiele für kussähnliches Verhalten: Verliebte Vögel schnäbeln, Hunde lecken sich gegenseitig über ihre Gesichter, Rhinozerosse verpassen sich zärtliche Nasenstüber und Elefanten stecken sich gegenseitig die Rüssel in ihre Mäuler, selbst unter Wasser gibt es kein Halten – „Küssende Guramis“ sind beliebte Aquarienfische. Neben den Menschen sind Bonobos und Orang Utans die einzigen Primaten, bei denen bisher Zungenküsse beobachtet wurden.
„Philematologie“ lautet der Fachbegriff für die Wissenschaft vom Küssen, in der physiologische, soziale und kulturelle Aspekte des Küssens eine zentrale Rolle spielen. Seit knapp 40 Jahren versuchen Forscher herauszufinden, welche Gehirnareale wann aktiviert werden, welche Botenstoffe dabei im Einsatz sind und wie viel Einfluss kulturelle Regeln auf unser Kussverhalten haben. Die wissenschaftliche Kussforschung hat durchaus ihre Daseinsberechtigung. In 70 Lebensjahren verbringen wir durchschnittlich 110.000 Minuten mit Küssen. Das sind in summa 76 unverzichtbare Lebenstage!
Warum küssen wir Menschen einander? Zur Geburtsstunde des Kusses haben die Wissenschaftler äußerst unterschiedliche, oft gänzlich unromantische Erklärungen. Sigmund Freud deutete unsere Lippenakrobatik Anfang des 20. Jahrhunderts tiefenpsychologisch als symbolisches Saugen an der Mutterbrust. Ursprung dieses Instinkts sei unser Verlangen, als Neugeborenes von der Mutter gestillt zu werden. Im Erwachsenenalter ersetze der Mund des begehrten Menschen die mütterliche Brust. Wir sehnen uns weiterhin nach jener oralen Befriedigung, die wir beständig mit dem Küssen zu stillen versuchen.
In Abgrenzung zur Freud´schen Hypothese vom Stillbedürfnis vermutete der britische Verhaltensforscher Desmond Morris in den 1960er Jahren die evolutionären Wurzeln des Kusses in der abgewandelten Form der Mund-zu-Mund-Fütterung, wie sie in der Frühzeit des Menschen in allen Kulturen verbreitet war. Irgendwann seien die Mütter dazu übergegangen, ihren Nachwuchs anstelle von Nahrung durch liebevolles Küssen zu besänftigen. Aus dieser Geste soll im Verlauf der Menschheitsgeschichte der partnerschaftliche Kuss als Ausdruck leidenschaftlicher Zuneigung hervorgegangen sein.
Abweichend von Freuds und Morris´ Theorien mütterlicher Fürsorge zur Bekundung liebevoller Zuneigung, ist für die Bremer Sexualwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld schlicht und ergreifend Sex Urquell des Küssens. Als sich homo sapiens von der Erde erhob und aufrecht auf zwei Beinen zu laufen begann, habe er diese rituelle Geste der sexuellen Kontaktaufnahme einfach von unten nach oben verlagert. Da der aufrechte Gang fortan die Aufmerksamkeit auf den Mund des Anderen lenkte, wanderte auch das erotische Interesse sozusagen vom Po der Vierbeiner zum Mund der Zweibeiner – ein beachtlicher Aufstieg!
Welche der drei Deutungen nun zutrifft, bleibt letztlich offen. Fakt ist, dass unser Lippen-Ritual eine innige Verbindung bekundet. Doch die Kusslust scheint uns nicht direkt in die Wiege gelegt zu sein, sie will erst erlernt und „kultiviert“ werden. Das würde auch erklären, warum für ein Zehntel der Menschheit Lippenküsse fremde Feuchtgebiete sind.
Die Liebesforscherin Helen Fisher kam 1992 zu dem Ergebnis, dass etwa 650 Millionen Menschen die Kunst des Küssens nicht beherrschen! Doch auch hier sind Allgemeinplätze unzulässig. Bei solchen Beobachtungen ist zu bedenken, dass intime öffentliche Zärtlichkeiten in vielen Völkern ein kulturelles Tabu darstellen, mancherorts sogar verboten sind.
Medizinisch betrachtet müsste es den Kussrausch auf Rezept geben. Wer viel küsst, stärkt sein Immunsystem, das durch die freigesetzten Glückshormone auf Hochtouren läuft. Der Kuss wirkt wie eine Schluckimpfung, die sich Küssende gegenseitig verabreichen.
Während der gegenseitigen Liebkosung wechseln zwar 40.000 Keime ihren Besitzer (hingegen sind es beim Händedruck lediglich 5.000!), doch unser kontaktfreundliches Immunsystem macht sich schnell mit den fremden Mikroben vertraut: Es sendet Impulse zur Bildung von Antikörpern aus und stärkt so unsere Abwehrkräfte. Obendrein hat der Lippenkontakt zudem deutliche Auswirkungen auf andere Körperregionen. Wie bei einer Energieaufbauspritze steigen blitzschnell Puls, Blutdruck- und Atemfrequenz, Pupillen und Gefäße weiten sich, der Kreislauf gerät aufgrund besserer Durchblutung in Schwung. Ganz zu schweigen von unserem rationalen Denken, das sich vorübergehend verabschiedet. Wir erröten, bekommen Gänsehaut, manchmal zitternde Knie, sind sexuell erregt.
In unseren Köpfen ist beim Küssen Silvester. Ausgestattet mit Tausenden hochsensiblen Riech- und Sinneszellen, schenkt der Mund dem Gehirn ein Feuerwerk an neuronalen wie chemischen Reizen, die unser Sinnempfinden, unsere soziale Bindungen und unsere sexuelle Erregung entzünden. Als dünnste Hautschicht des menschlichen Körpers enthalten unsere Lippen die höchste Dichte sensorischer (sprich Sinneseindrücke verarbeitender) Nervenzellen. Sobald sich zwei Lippenpaare berühren, senden im Verbund mit Zunge, Nase und Mund tausende dieser Nervenzellen blitzartig Botschaften an das Gehirn. Diese Signale enthalten Auskünfte zu Geschmack, Geruch, Temperatur und Bewegungen, ob die Lippen des anderen frostig oder hitzig, knochig oder geschmeidig, glatt oder rau sind.
Die Forschungsergebnisse stehen offenkundig in Einklang mit geschlechts-spezifischen Motiven: Für Frauen ist der Kuss ein Muss, sozusagen die Tauglichkeitsmesslatte bei der Wahl potentieller Partner. Für Männer ist er eher eine Zwischenstation auf dem Weg zum Ziel – Sex zu haben. So überrascht es kaum, dass 63 % der Frauen lieber auf Sex als auf den Lippenkontakt verzichten würden, bei den Männern sind es nur 37,3 %. Männer küssen demzufolge für den Augenblick und Frauen mit Weitblick. So kann der erste Kuss eine Art Bewährungsprobe sein, die über das Zustandekommen einer tieferen Verbindung entscheidet.
Wer weiß, möglicherweise lag Platon mit seiner Kussdeutung völlig richtig, dass sich während eines Kusses von Mund zu Mund die Seelen der Liebenden berühren und miteinander vermischen. Zumindest für einen innigen Moment. Ein Kuss sagt manchmal eben mehr als 1000 Worte…