Ob wir Liebe geben und empfinden können, entscheidet sich zum großen Teil auf dem Fundament unserer emotionalen Prägung in den ersten drei Lebensjahren. In diesem Zeitraum werden in unserem Gehirn die grundlegenden Beziehungsmuster für spätere Bindungen programmiert. Anhand etlicher Studien konnte bestätigt werden, dass die so genannte „Bindungstheorie“ die überzeugendste Theorie zum menschlichen Liebesverhalten ist. Demnach dominiert bei jedem Menschen einer von vier „Bindungsstilen“(Aufteilung nach Erich Witte, 2001): dem „sicheren“, dem „gleichgültig-vermeidenden“, dem „ängstlich-vermeidenden“ oder dem „ängstlich-ambivalenten“.
Im Laufe unserer individuellen Lebenszeit entwirft jeder von uns ein Liebesmodell, in dem unsere persönlichen Beziehungserfahrungen gespeichert sind: wie wir in früher Kindheit unseren Eltern verbunden waren, wie wir unsere Geschwisterbindung wahrgenommen und Freundschaften sowie vergangene Lieben erlebt haben.
Um den Mann oder die Frau unseres Herzens erobern zu können, müssen wir unsere Gefühle nach außen tragen. Das zieht viele Unsicherheiten nach sich, die ihren Ursprung in der Kindheit haben. D.h. jede neue Beziehung und die Art und Weise, wie wir uns an sie herantasten, wird unbewusst von diesen verinnerlichten Bindungsentwürfen geprägt. Parallel dazu wirkt unsere aktuelle „Liebesperformance“ auf diesen Code zurück. Darüber hinaus üben frühe Bindungserfahrungen Einfluss auf neurophysiologische Prozesse aus.
Die Urbindung, deren Grundlage das Urvertrauen bildet, entsteht durch die zuverlässige liebevolle Hinwendung der ersten Bezugsperson(en). Solcherart Bande bedingen die Ausbildung der Rezeptoren des „Wohlfühlhormons“ Oxytocin, das wiederum auf unser Bindungsverhalten zurückwirkt. Wissenschaftler betrachten den Stoff als biochemischen „Kitt“, der intensive menschliche Beziehungen wie Eltern-Kind-Bindung und Partnerschaften stabilisiert. Bleiben während Kindheit und Jugend nährende Bindungserfahrungen versagt, so kann dies fatale Folgen für die spätere Beziehungsfähigkeit der Betroffenen haben. Dramatische Unterschiede im Liebesverhalten von Person zu Person werden mit dieser Theorie unweigerlich verständlich.
Menschen mit einem sicheren Bindungsstil (ca. 60% aller Deutschen) glauben fest an die Haltbarkeit der Liebe. Entsprechend fällt es ihnen leicht, einer anderen Person gefühlsmäßig nahe zu kommen. Sicher gebundene Menschen sind darauf bedacht, in ihren Bedürfnissen gesehen und verstanden zu werden. Sie haben gelernt, etwas vom anderen fordern zu dürfen. Sie schenken dem Partner Vertrauen, weil sie sich selbst vertrauen. Ihnen gelingt die Balance aus Nähe und Distanz: Sie mögen Nähe, tragen es aber auch mit Fassung, wenn die geliebte Person mal fern ist und eigene Interessen verfolgt.
Menschen, die früh Zurückweisung erfahren haben, unterdrücken oftmals ihre Sehnsucht nach Nähe, indem sie sich einen gleichgültig-vermeidenden bzw. abweisenden Bindungsstil als Schutzpanzer zulegen (ca. 30% der Deutschen). Liebesvermeider bleiben auf Distanz. Während sie von anderen Menschen ein negatives Bild haben, ist ihr Selbstbild positiv. Elementar ist für sie das Gefühl der Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Sie fühlen sich ohne emotionale Beziehungen scheinbar wohl. Da sie davon überzeugt sind, dass Liebe unvermeidlich ein Verfallsdatum hat, verhalten sie sich nach außen hin nicht selten wie ein Eisschrank, in dem für warme Gefühlskost kein Platz ist.
Ängstlich-vermeidende Bindungstypen (zusammen mit Besitzergreifern ca. 10% der Deutschen) haben ebenfalls Zurückweisung erfahren, aus der sie fatalerweise deuten, nicht liebenswert zu sein. Sie haben sowohl ein negatives Bild von anderen als auch von sich selbst. Der Stachel sitzt so tief, dass sie sich aus Angst vor Abhängigkeit davor weigern, sich einem anderen Menschen getrost hinzugeben. Zugleich sehnen sie sich gefühlsmäßig nach inbrünstiger Zweisamkeit. Ihren Mitmenschen vollständig zu vertrauen oder von ihnen abhängig zu sein, stellt eine große Belastung für sie dar.
Ängstlich-ambivalent gebundene bzw. besitzergreifende Partner haben ein positives Bild von anderen, hingegen ein negatives von sich selbst. Aus diesem Grund bemühen sie sich einerseits wie Klammeraffen um die Nähe des Anderen, müssen aber häufig zu ihrem Leidwesen feststellen, dass dieser sich gegen so viel (erstickende) Nähe sträubt. Verstrickt in ihre Liebesbeziehung beklagen sie, vom Partner nicht genug Aufmerksamkeit zu bekommen. Dieser Bindungstypus fühlt sich ohne feste Verbindung wertlos.
Welche Bindungsstylisten sind wohl die virtuosesten Liebeskünstler? Die Antwort ist eindeutig: Zwei sicher Gebundene haben die Zügel in der Hand! Ja, sie sind souveräne Dresseure ihrer wilden Kunststücke mit der Liebe. Ihre Attraktionskraft liegt darin, dass sie nicht nur selbstsicher, sondern sich auch des Partners und dessen Liebe sicher sind. Sie lassen Nähe zu, ohne sich dabei zu verlieren. Sie setzen Grenzen, ohne den anderen auszugrenzen. Statistisch betrachtet, halten Beziehungen sicher gebundener Paare durchschnittlich zehn Jahre (aus), demgegenüber die der unsicher gebundenen Typen nur halb so lang, so der Untersuchungsbefund der amerikanischen Psychologen Cindy Hazan und Phillip Shaver. Chancen und Risiken gibt es nach Ansicht der Bindungsforscher zwar bei jedem der vier Bindungsstile, das Motto sollte dennoch lauten: „Es gibt keinen falschen Stil, es gibt nur die falsche Kombination“! Auch sicher gebundene Beziehungstypen sind nicht vor einer Bauchlandung geschützt. Durch ihren Hang zur Selbstüber-schätzung laufen sie nämlich schneller Gefahr, ausgenutzt zu werden.
Obgleich ängstlich-ambivalente Personen mit einigen Tücken zu kämpfen haben, neigen sie aufgrund ihrer sensiblen Vorsicht dazu, sich intensiver um die Beziehung zu bemühen, indem sie für eine größere Nähe sorgen. Gleichgültig-vermeidende oder abweisende Bindungstypen, die beziehungstechnisch gelernt haben, auf eigenen Füßen zu stehen und innerhalb der Partnerschaft eine größere Distanz leben, lassen dem Partner am ehesten Freiraum zur Selbstentfaltung. Die größten Fallstricke ergeben sich vermutlich im partnerschaftlichen Umgang mit ängstlich-vermeidenden Personen.
Mir drängt sich die Frage auf, zu welchem Liebesstil ich eigentlich tendiere? Das bleibt wohl besser ein Geheimnis zwischen mir und denjenigen, die heute still und stillos die Straßenseite wechseln, wenn sie mir über den Weg laufen!
Hätten wir die freie Wahl zwischen den aufgeführten Bindungsstilen, so würden wir uns für unseren Alltagsbedarf wohl mit deutlicher Mehrheit für „sicher gebunden“ entscheiden. Doch machen wir uns nichts vor – es waren selten die sicher Gebundenen, die schillernde Dramen, goethliche Werke und mozarte Kompositionen schrieben. Kunstwerke, geschaffen von rastlosen Selbstzweiflern, die mit ihrem Blick in menschliche Abgründe wiederum unsere Sehnsüchte wach rufen – und uns damit reich beschenk(t)en!
Wenn auch Sie sich fragen, ob es einen Trick gibt, den Bindungsstil unserer Neueroberung zu durchschauen und einem bösen Erwachen vorzubeugen, so muss ich Sie enttäuschen. Unsere angelegten Stile agieren im Backstagebereich und sind somit auf offener Bühne nicht einfach zu enttarnen. Nicht umsonst sind wir Liebesakrobaten, deren Medium die Illusion ist. Wer jedoch ein echter Zirkuskünstler ist, der verschafft sich einen Bachstage-Pass und riskiert den zweiten Blick hinter die Kulissen…
Lieben wir als Erwachsene unweigerlich so, wie wir es als Kind gelernt haben? Anders gefragt: Sind „Mama und Papa“ schuld, wenn Sohnemann oder Töchterchen zum x-ten Male in den gleichen Liebesfettnapf stapft? Die Mehrheit der Bindungstheoretiker war tatsächlich lange der Überzeugung, dass der jeweilige Bindungsstil unwiderruflich und schicksalhaft in der Kindheit geprägt wird und dieses Bindungsmuster sogar über Generationen hinweg wirkt. Wir wären also bis in alle Ewigkeit verdammt, die vorgelebte Beziehung unserer Eltern zu wiederholen. Ein empirischer Beweis dafür liegt allerdings nicht vor, und einige Fakten sprechen dagegen. Zum einen ist diese Determinationsthese aufgrund zahlreicher Gegenbeispiele widerlegt. Zum anderen versteckt sich hinter der Annahme einer Erbschaftsbürde ein behavioristisches Reiz-Reaktions-Schema, das als „Black Box“ in der Seelenforschung vergangener Tage ebenfalls entkräftet wurde.
Für den Bochumer Bindungsforscher Hans-Werner Bierhoff lässt sich der Bindungsstil im Erwachsenenalter nicht kausal aus der Kindheit ableiten. Dagegen kam das deutsche Bindungsforscher-Duo Klaus und Karin Grossmann in seinen zwei Langzeituntersuchungen zu dem Befund, dass Eltern ihre Bindungssicherheit oder -unsicherheit meist auf ihre Kinder übertragen (Mütter mit sicherem Stil zu 65%, sichere Väter zu 62%). Schlussendlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Mensch, dem seine zugeneigten Eltern das Einmaleins der Liebe mit auf dem Weg gegeben haben, später ein leichteres Voltigier-Spiel im Weichen stellenden Liebeszirkus hat. Er wird sich selbst, seinem Stil und möglicherweise auch seinem Partner eher treu bleiben.
Trotz prägender Elternbindung bleibt Raum für Plastizität. Selbst wenn wir ein bestimmtes Liebesmodell gelernt und Wurzeln darin geschlagen haben, so können wir es dennoch umlernen. Unsere ersten Bezugspersonen sind die Lehrmeister unseres Liebeszirkus, sie stellen uns die Requisiten bereit. Was wir letzten Endes aus diesen Vorgaben machen und wie wir unsere Galavorstellung gestalten, liegt an uns selbst. Für unglückliche Bindungsphobiker auf der Suche nach Liebesglück erweist sich die bindungsorientierte Psychotherapie oftmals als heilsamer Weg. Sie setzt es sich zum Ziel, Klienten mit einer unsicheren Bindungseinstellung zu einer sicheren Bindungseinstellung zu verhelfen. Die Stilfrage kann ebenso durch einschneidende Erfahrungen im Verlauf der Kindheit und Jugend, durch Schicksalsschläge wie Todesfälle, Enttäuschungen, gebrochene Herzen oder durch totale Verliebtheit eine ganz neue Wendung erlangen. Fest steht nur: Die Show muss weitergehen! Unser Gehirn ist und bleibt in seiner inneren Struktur und Organisation höchst anpassungsfähig. Es lernt immer weiter. Bestärkende Erlebnisse überlagern frühere. Beziehungsmuster lassen sich daher durchaus positiv modifizieren. Kindheit ist also kein unabwendbares Schicksal, im Gegenteil.
Um den eigenen Denkstil zu ändern, beginnen wir am besten bei uns selbst, indem wir die Ursachen unseres Liebesverhaltens durchschauen. Was können wir uns selbst und dem anderen geben, um uns sicher zu fühlen? Die Antwort ist nahe liegend, nämlich das, was auch beim Kind zu einem sicheren Bindungsstil führt: verlässliche Zuwendung. Wir können aufatmen und hinzulernen. Es ist nicht der lange Arm unserer Eltern, der über unser Liebesleben bestimmt! Einem „Stil-Bruch“ stehen diese im Erwachsenenalter nicht im Wege – höchstens wir selbst.